KuLi - Zeitschrift für Kunst & Literatur

 

Titelseite: Bewegte Ruhe, 200 x 180 cm, Öl auf Leinwand, 2009


Ich begann etwa im Jahr 2000 mit Arbeiten, die die Wahrnehmung der Welt in ein surreales Bildgefüge übertragen. Figuren, Räume und Gegenstände tauchen auf und scheinen auf einer imaginären Bühne zu agieren. Sie folgen einer Bildlogik und setzen den Motor des Beobachtens und Rätselns in Gang. Diesen Bildern eignete eine konventionelle Figurenanlage und eine eher tonige Farbigkeit. Zwei langjährige Diskurse folgten diesem ersten Werkkomplex. Zunächst untersuchte ich die Farbe und verbannte dabei Gegenständlichkeit und Figuration. Anschließend konzentrierte ich mich auf das Erscheinen von Plastizität aus der Fläche. Hierbei verschwand dann auch die Farbe. Seit 2018 wandte ich mich wieder der Narration in den Bildern zu. Mittlerweile hatte ich mir die Druckgrafik in Form des Holzschnittes nutzbar gemacht und entwickelte im folgenden einen eigenen Zugang zur Figur, insbesondere zum Kopf. 2022 begann ich, an die alten Bildwelten anzuknüpfen. Sie wurden nun in den drei Disziplinen Zeichnung, Druckgrafik und Malerei vorangebracht. Jede bildnerische Form hat dabei eine spezielle Aufgabe. Die Zeichnung dient dem Sammeln von Ideen: Alles darf raus und kommt mit Kohle auf das Papier. Der Holzschnitt macht die Formen und Motive dingfest und verankert sie als Schnitt im Holz. Dabei werden mögliche atmosphärische Farbigkeiten ausgelotet. Die größtmögliche malerische Differenzierung wird dann im Bild auf die Leinwand gebracht. Alles bildet einen Prozess und bereichert sich gegenseitig. So ist über die Jahre ein Werkgefüge entstanden, welches von außen heterogen erscheinen mag aber innen ein gebautes Gerüst beherbergt.

 

 

  Frühstück am Mittwoch, 220 x 150 cm, Acryl auf Papier, 2002

 

 


Durchdringung, 200 x 180 cm, Öl auf Leinwand, 2009



 

Sichtbar werden, 90 x 100 cm, Öl auf Leinwand, 2011 

 

 

 

 
My time, 190 x 240 cm, Tempera auf Leinwand, 2012

 

 

 Rainer Maria Gassen Geschenkter Zeit


Geschenkter Zeit sieht niemand an, ob ihr

auch Dauer eigen ist; und ließe sich

erahnen, wann auch sie ihr Ziel erreicht

, sie diente nicht einmal bescheid’nen Zwecken;

 


Alte hadern, Junge leben lieber

 in ihr, als ihr Zwecke zuzuschreiben,

 doch wie qualvoll ist die je nachdem zu

kurz bemessen oder zieht sich ungeniert

 


unendlich hin, verwegen, ihren Wert

 zu fassen, nachgerade unsinnig

 ihn zu beziffern, rinnt sie doch nach ihrem

 


eigenen Bedarf, und meint in seinem

 Unverstand ein armer Mann, er wollt‘ sie

 nutzen, ist sie lange schon Erinnerung.

 

 


Verschiebung der Sanduhr (Motiv 4 und 8 von 27), 66 x 40 cm, Holzschnitt auf Papier (4 Abzüge), 2017

 

 


Jahresblatt 2021, 34 x 25,5 cm, Holzschnitt auf Papier (145 Abzüge in unterschiedlichen Varianten), 2021 

In der Nacht, 70 x 100 cm, Holzschnitt auf Papier (14 Abzüge mit unterschiedlichen Farben), 2022



 

 

 

ReiseReise – Der Aufbruch, 170 x 126 cm, Holzschnitt auf Leinwand, 2023

 

Irma Shiolashvili
Brombeercocktail
für Eva


Wir alten Freunde gingen zu einem neuen Café, zu einem noch unvertrauten Café, zu einem noch nicht ins Herz geschlossenen Café, um den gewünschten Cocktail zu trinken, um über tausend Dinge zu sprechen. Ich hätte gerne einen Brombeercocktail, einen Cocktail mit Eiswürfeln, mit viel Zucker und Likör, mit noch unentdeckten Geschmacksrichtungen, sagte ich laut und strich mit meinem Finger über den blauen Tisch
Brombeeren erinnern mich schon lange an den Tod und an Blutflecken. Als bei uns im Dorf geschossen wurde, lag ich in Brombeersträuchern. Der Geschmack von Brombeeren haftete an meinen zitternden Händen! So muss der Tod schmecken, stellte ich mir vor. Ständig ist in mir dieser Tod mit dem Geschmack nach Brombeeren, sagte unsere syrische Freundin und strich sich mit ihren sonnengebräunten Händen die brombeerfarbenen Haare zurecht.
Brombeeren sind meine Lieblingsbeeren, dornig wie die Liebe. Anziehend steht der Strauch mit seinen stachligen Ästen und zählt seine Sommer und lädt uns mit schwarzen Augenstrahlen zu sich ein. Die Dornen sind seine Würde. Deshalb sind sie für mich der Liebe ähnlich. — Du musst dir erst die Hand zerkratzen, bevor du es genießen kannst. Ständig ist in mir die Liebe mit dem Geschmack nach Brombeeren, sagte unsere kroatische Freundin und blickte kurz auf den an ihrem Mittelfinger angebrachten schlichten Ring mit schwarzem Gagat.

Brombeeren schmecken für mich wie die Hände meiner Mutter, wie eingelegte Früchte und Konfitüren, die meine Mutter jeden Herbst kochte und dazu meine Schwester und mich zu Hilfe rief. Wir sortierten und wuschen die Brombeeren und mit hellen freudigen Rufen beobachteten wir die süß befleckten Hände der Mutter. Ständig sind in mir diese Hände mit dem Geschmack nach Brombeeren, sagte unsere deutsche Freundin. Und aus ihren schönen blauen Augen ließ sie die zurückgehaltene gesammelte Süße der Kindheit herausrollen.
Ich aber saß und erzählte nicht, dass einmal, als ich und meine Schwester zum Beerenpflücken in den Wald gingen, wir bei den Brombeeren ausrutschten und unser Glück in den Dornen hängen blieb.
Wir zogen einander die Dornen heraus und pflückten trotzdem mit blutigen Händen weiter die Beeren. Ihre Süße ließ uns den Schmerz vergessen. Ich habe die Süße der Brombeeren vermisst, sagte ich doppeldeutig und strich mit meinem Finger über den blauen Tisch.

Übersetzung aus dem Georgischen: Joachim Britz

 

 

 

ReiseReise, 78 x 70 cm, Kohle auf Papier, 2023

 


AbGrund, 240 x 190 cm, Tempera auf Leinwand, 2023/2024

 

IMPRESSUM
KuLi – Zeitschrift für Kunst und Literatur, hrsg. vom Verein zur Förderung von Kunst und Literatur KuLi e.V. in Bonn, erscheint jährlich. Auflage 150; Preis: € 5,00
Redaktion: Renate Fröhlig-Striesow, Katja Kaut, Thomas Kaut, Eva Mayer-Flügge
Layout: Thomas Kaut — Druck: WIRmachenDRUCK GmbH, Backnang
Willkommen sind Zusendungen von Texten (max. 10.000 Zeichen) als Word- und von Bildern als JPEG-Datei an: thomaskaut@gmx.de – Autor*in bzw. Künstler*in verfügt über das Urheberrecht und gewährt KuLi e.V. den einmaligen Abdruck.
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