ReiseReise Teil I - Der Aufbruch

Zyklus mit 17 Farbholzschnitten

 

 

 


 

 

Handel - Musketier - Richtung 
 
 
 
 Blick zurück nach vorne - Naturkrieger - Drei auf hoher See
 
 
 
 
Labyrinth - Ernte - Harlekin 
 
 
 

 Krieger - Zwei oder Drei - Vogelfänger
 
 
 
 
Denken - Techniker - Technik 
 
 
 
 
Natur
 
 
 
 
 
 
 
 

Drei Leinwände und alle Druckstöcke
 


 





 
 

ReiseReise – Der Aufbruch


Der Zyklus ReiseReise – Der Aufbruch entsteht in den Jahren 2021 bis 2023 und ist der zweite große Holzschnittzyklus. Hierzu gibt es zwei größere Vorläuferarbeiten. Zum einen wird die Arbeit des Passionszyklus des Jahres 2018 fortgeführt, zum anderen greift der Zyklus die Konzeptidee der Grafikretrospektive von Sinzig aus dem Jahr 2021 auf.


Der Passionszyklus der Jahre 2018 / 2019 bezieht sich auf eine tradierte Bildform der abendländischen Kunstgeschichte. Biblische und philosophische Erzählungen stehen dabei im Fokus, wobei die Handlungen mit Figurendarstellungen und Farbatmosphäre ausgedeutet werden. Es ergibt sich ein fortlaufendes Bildnarrativ mit Verkündigungsbotschaft. Die Ausstellung von Sinzig zeigte Arbeiten der einzelnen Werkphasen und mündet in vier großformatigen Holzschnitten, die Bildelemente aus allen Bereichen des 20 - jährigen Schaffens miteinander verbinden. So entsteht auch das erste Motiv des ReiseReise Zyklus, welches bereits in der genannten Ausstellung zu sehen ist.


Nach dieser Ausstellung wird der Zyklus kontinuierlich entwickelt und seine endgültige Form entsteht. Erwähnenswert ist ein Studienbesuch im Jahr 2021 in Colmar. Hierbei steht der Isenheimer Altar im Mittelpunkt. Dieser Flügelaltar von Matthias Grünewald aus dem Jahr 1516 mit vorderseitigem Zentralmotiv, den Aposteldarstellungen auf den angrenzenden Flügeln und den rückseitigen Nebenmotiven ist ein zentrales Hauptwerk europäischer Kunstgeschichte. Hieraus erwächst die Idee eines Retabelbildes (Altarbildes) für den ReiseReise Zyklus. Ein zentrales Hauptmotiv wird umgeben von kleineren Erzählmotiven, Einzelporträts und einem variierten Motivlogo. Alles zusammen ergibt einen großen Farbholzschnitt, bestehend aus 17 Motiven, der mit Hilfe von 55 Druckplatten gedruckt wird.


In den verschachtelten Erzählbildern tauchen wiederkehrende Motive auf. Wir sehen Schalen, Säulen, unterschiedliche Räder, Wimpel, Boote, pflanzliche, tierische und figurative Elemente sowie Gesichter oder Masken. Es ergibt ein schwer zu deutendes Geflecht. Assoziationsketten werden angerissen – Natur, Technik, Tier- und Menschenwelt verschieben sich ineinander und suchen Orientierung. Bewegung ohne Stoßrichtung und Sinn wird gezeigt.


Demgegenüber wirken die Einzelköpfe und das variierte Logo thematisch geordneter. Hier gibt es überzeichnete karikative Porträts. Archetypische Insignien kennzeichnen die Heldendarstellung vom Krieger, Techniker und Harlekin. Sie symbolisieren notwendige Eigenschaften einer lebendigen Gesellschaft. Das Logo benennt nochmals die Bereiche Technik, Natur, Ente und Bewegung.


Im Hauptmotiv der Mitteltafel des Retabelbildes werden alle angerissenen Themen gebündelt, komprimiert und vorsichtig geordnet. Zwei Personen treten in Größe und Helligkeit deutlich hervor. Sie bilden das Zentrum. Die Zeichen der Bewegung, Natur, Technik, Ernte und Gemeinschaft gruppieren sich um diese Mitte. Unterschiedliche Richtungen werden markiert. Nach rechts durch den Wimpel, nach links durch den Schnabel des Vogels und in die Tiefe durch die Bootsspitze. Alles ist miteinander verbunden, verkettet und in den gleichen Bildraum gefasst. Zahnräder, Blütenspiel und Wellen vereinen die unterschiedlichen Bewegungsrichtungen miteinander. Die beiden Mittelfiguren bilden mit ihrem Profil und halber Ansicht eine stabile Konstante. Gegensätzliches als Mann - Frau , Licht - Schatten , Kampf - Besonnenheit bilden sich hier als ergänzende Einheit ab.


Dieses Werk zeigt einen Aufbruch mit gedrosselter Energie und ohne klare Richtung. Etwas wird verkündet, aufgezeigt, bewusst gemacht. Eine Ordnung und eindeutige Antworten fehlen. Das Bild setzt ein Narrativ, eine erzählerische Anregung. Es ist ein Retabelbild mit weltlichem Inhalt und einem Verweis auf abendländische christliche Tradition dem das Heilsversprechen abhandengekommen ist und wo nur die Idee übrig zu bleiben scheint. Vielleicht genug für einen Aufbruch zu einer neuen Reise. Mit einem Blick zurück, dem Wahrnehmen des Chaos und dem Willen, eine neue Ordnung zu bilden.


 
 

Statistik

Arbeitszeit:

Beginn Juni 2021- Ende Juli 2023

2021 - 8 Wochen

2022 - 9 Wochen

2023 - 23 Wochen

Gesamtzeit ca. 10 Monate 

 

Gesamtabzüge nummeriert:

696 Blätter klein (Randmotive), Papier DIN A3, Druck 34 x 25,5 cm

8 Blätter mittelgroß (Mitteltafel), Papier und Druck 102 x 76,5 cm

4 groß (Gesamtbild), 3 Leinwände (200 x 150 cm), 1 Papier (200 x 150 cm), Druck 170 x 126 cm

Gesamtdrucke geschätzt: 2000 Stück

 

Druckstöcke:

49 kleine Druckplatten, 34 x 25,5 cm, (16 Formplatten, 32 Farbplatten, 1 Grundplatte)

6 mittelgroße Druckplatten, 102 x 76,5 cm, (1 Formplatte, 4 Farbplatten, 1 Grundplatte) 

Für eine mögliche Farbe wurde immer eine Druckplatte geschnitten. Es wurde nicht im verlorenen Schnitt gearbeitet.

 

 

 


Im Jahr 2024 entsteht ein Katalog zum Zyklus. In diesem Zusammenhang schreibt die Kunstjournalistin Dr. Heidurn Wirth folgenden Text

 

Der Bilderzyklus REISE REISE ist in den Jahren von 2021 bis 2023 entstanden. Es beginnt langsam, aber kontinuierlich. Das Skizzieren jeden Abend, so wie es vielleicht einmal die Holzschnitzer an den Winterabenden im Erzgebirge gemacht haben, die Frauen mit ihrem Strickzeug, Penelope mit ihrem Teppich, der nie fertig wurde. Motive kommen und gehen, es sind fast Blindzeichnungen, manchmal ist es Erhaschtes vom Tage, manchmal sind es Querschläge aus dem Fernsehen. „Bei mir fängt immer alles mit Zeichnungen an“ und „Es ist ein Denken mit dem Stift, das ist mein Ursprung.“ sagt Jürgen Middelmann. Und doch bleibt dieses Denken dabei vage, denn das Unterbewusste bricht sich Bahn in den Abendstunden, wo die Menschen sich in frühesten Zeiten um das Feuer sammelten und Geschichten erzählten, wie es sie am Tag nicht gab. „Einfach so laufen lassen, was vom Tag reinkommt“, sagt Jürgen Middelmann.


Berge von Skizzen lagern da. Schließlich werden Motive herausgesucht, die irgendwie verwandt sind, die es „miteinander können“. Da ist ein Kopf, dort ein Auge und hier eine Pflanze. „Wimmelbilder“, sagt der Künstler augenzwinkernd. Und allmählich kristallisieren sich Themen heraus und das Ganze wird kompakter. So sind die kleinen Holzschnitte entstanden in einem ersten Schwarz-Weiß-Zyklus zu Beginn der REISE. Doch eine „Sesselreise“ wie bei Kant war es eben nicht. Jürgen Middelmann hat auf einer realen Reise den in neuer Pracht erstrahlten Isenheimer Altar in Colmar besucht. Was ihn faszinierte, war auch die Anordnung dieser mittelalterlichen Altarbilder, auf denen es eine großartige Mitte gibt, aber auch noch so viel darum herum auf den Altarflügeln, in der Predella und in kleinen Bildtafeln, die diese Mitte in simultanen Erzählungen erläutern. Damals war es eine eindringliche Verkündigung an die Menschen, die nicht unbedingt lesen und schreiben konnten. „Damals dienten die Bilder dazu, Orientierung zu geben“, sagt der Künstler. Und auch seine „Nebenschauplätze“ umrahmen sein Hauptmotiv in kleinen Bildfenstern. Es entsteht dabei eine Transluzenz wie bei den romanisch-gotischen Kirchenfenstern.


Aber wir sind nicht im Mittelalter. Der Künstler sagt: „Ursprünglich wollte ich Adam und Eva darstellen, aber ich habe eine allgemeinere Mann-Frau-Situation in die Mitte gepackt.“ Das dunkle Halbrund des Auges im Hintergrund, das Profil mit dem niedergeschlagenen Blick davor, was ist da Mann, was ist Frau? Sind es überhaupt menschliche Wesen oder sind es Geister, die da plötzlich allenthalben erwachen? Flackernde Veränderungen, Auflösungen, trotzige Behauptungen. Die kleinen Extraholzschnitte rund um den großen Holzschnitt, sind sie nicht auch so etwas wie die vielen Gruppierungen in unserer Gesellschaft, „die sich alle positionieren wollen“? fragt der Künstler und fährt fort: „Wo führt da irgendwo ein Weg hin?“ Unsere Zeit fragt heute säkular, ob es einen Weg aus der kollektiven Depression geben kann. Vielleicht hat unser kulturelles Gedächtnis Kräfte gespeichert. Und was sich in den Bildern abspielt, erscheint uns bald als Spiel, bald als Kampf, wenn sich unzählige Bildteile scharf geschnitten neben- und übereinander schieben, sich ineinander verknäulen oder wieder voneinander ablassen. Dynamik pur. Bald strahlen sie in heller Frische, dann wieder scheinen sie sich unter ihren Streifen und Schraffuren zurückzuziehen oder in feinsten Konturen zu entschweben. Manches ist harmlos wie das kleine Segelboot, manches ist hinterhältig wie die dunklen Blicke aus der Tiefe. Manches ist auf Symmetrie bedacht und wird zugleich davon überholt. Der Stil wird bisweilen kubistisch und erinnert an jene Zeit zwischen den beiden Weltkriegen im 20. Jahrhundert, als Otto Freundlich ein Atelier im Nordturm der Kathedrale von Chartres bezog, um die Glasmalerei zu studieren. Es geht um einen harten kompromisslosen Stil, um pure Schaffenskraft und Ordnung, wie es das Bauhaus vorgemacht hat. Und so erscheinen auch diese Holzschnitte von Jürgen Middelmann hart und kompromisslos. Passagen sind ebenso bedrohlich düster wie mit leichter Hand dahingeworfen. Sie sind ebenso poetisch und lebensfroh wie undurchdringlich und unheimlich. Es bestätigt sich: „Die Mehrsinnigkeit eines Kunstwerks ist umso dichter strukturiert, je weniger Abbildfunktionen es befriedigen muss.“ (Werner Hofmann)


Der Stil ist nicht abstrakt, er ist auch nicht realistisch. Das eine läuft aus, das andere ist überholt. So bahnt sich vielleicht ein neuer Stil unserer Tage seinen Weg, ausgehend vom Menschen auf der Suche in sich selbst und um sich herum, in der ihm neue Achtsamkeit, über sein faustisches Ego hinaus, anempfohlen wird. Vom „Wimmelbild“ führt der Weg in eine strukturierte Ordnung, zu kompakten Formen des Logos, hin zu unendlich vielen Assoziationen. Markant geht die REISE weiter, bis schließlich 72 Drucke für eine einzige Tafel zusammengefügt sind. Knifflig ist dieser Prozess. Nichts darf verrutschen, nichts darf sich verschieben. Je weiter die Arbeit fortgeschritten ist, umso größer ist die Anspannung, denn Korrekturen gibt es nicht. Welch eine Arbeit, welch eine Hommage an die Handwerklichkeit im Zeitalter der digitalen Machbarkeit. Aber auch: Welche Wunder sind darin verborgen? Farben, die man so noch nicht gesehen hat, entstehen in körnig überdrucktem erdigem Dunkel, fast mystisch durch die Violettanteile und das alles im Kontrast zum hellsten Leuchten von Farbpartien auf der Leinwand. Flächen und Strichschraffuren stehen sich gegenüber. Der Kontrast ist unverzichtbarer Teil des Bildgeschehens, ein Zyklus in Raum und Zeit voller Geheimnisse.

Es endet wie die Kantsche Philosophie nicht mit Antworten, sondern mit „offenen Fragen“: Wo geht die REISE hin?

 

 
 
Ausstellungen:
- Druckfrisch 2023, Bergisch Gladbach (Link)   
- Offenes Atelier 2023 / 2024 (Link)
- Mind the Gap, Künstlerforum Bonn (Link)
 

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