Freigelegt

 


 Freigelegt, 190 x 240 cm, Tempera auf Leinwand, 2022

 

Dieses Bild entwickelte sich 2022 aus einer Serie von Kohlezeichnungen. Sie entstehen intuitiv und sehr schnell. Alles, was in der augenblicklichen Situation vorhanden ist, fließt bewusst oder unbewusst mit in diese Zeichnungen. Atmosphäre, Stimmung, Ereignis, Nachrichtenlage und vieles mehr findet sich dort wieder. Die Zeichnungen entstehen über einen Zeitraum von Wochen, so dass sich die aktuelle Tagesmeldungen oder tägliche persönlichen Befindlichkeiten relativieren.


Aus den Zeichnungen entsteht dann zunächst eine Formplatte für einen Holzschnitt, wobei Komposition und Figurenformen festgelegt und im Holz verankert werden. Im Anschluss drucke ich diese Platte auf einige Untermalungen, die mir eine emotionale Orientierung für Motiv und Inhalt geben. Danach beginne ich die Leinwand zunächst mit einer Untermalung und arbeite sie dann langsam farblich detailliert durch.
Nachdem ich das Bild abgeschlossen habe und mit einigen Monaten Abstand, wird der Holzschnitt farblich fortgeführt und mit unterschiedlichen Farben gedruckt. So beleben und ergänzen sich die verschiedenen Disziplinen und umhüllen das Bild „Freigelegt“.

 

 



 



 



 

Darauf sehen wir zwei gegenüberstehende Figurengruppen: drei auf der linken und zwei auf der rechten Seite. Zum einen scheinen sie aufeinander bezogen zu sein – immerhin befinden sie sich ja auf einem Bild – zum anderen gibt es auch Befremdlichkeit zueinander. Zu groß sind die formalen Unterschiede. Bei den zwei Figuren auf der rechten Seite scheint es sich um eine erwachsene Person und ein Kind zu handeln (ob Mann oder Frau ist nicht eindeutig auszumachen) und ein Mädchen mit blondem Zopf.
Diese überlebensgroßen Figuren schauen uns an, nehmen durch die stark konturierten Augen Blickkontakt mit uns auf. Sie treten uns auch als Einheit gegenüber – hier gezeigt durch die kompositorische Anordnung und die gleiche Formsprache und Farbigkeit. Und doch sind sie auch in sich abgekapselt , zumal es keine körperliche Berührung zu den jeweils anderen gibt. Die erwachsene Figur scheint eher um Schutz bedacht zu sein. Ihr Mund ist geschlossen und die Kragenseite hochgeschlagen. Das Kind wirkt geöffneter und kommunikativer. Die Augen und der geöffnete Mund zeigen uns das. Der hart geflochtene Zopf suggeriert jedoch Strenge und Ordnung. Die blaue Kleidung der erwachsenen Figur lässt entfernt an eine Marienfigur denken wodurch das biblische Mutter-Kind-Thema angerissen wird - eine eher herbe und wenig zärtliche Transformation.
Auch die drei Figuren auf der linken Seite bilden eine Einheit. Zum einen wird dies durch die gleichen Kopfdarstellungen aber auch durch die einschließenden Arme deutlich. Diese Figuren haben keine blickenden Augen und die Gesichter wirken roboterartig. Viele mögliche Stimmungsreize gehen von diesen Figuren aus. Lachende Fratze, Verschlagenheit, Arroganz, aber auch Debatte, Unterhaltung und Sondierung sind mögliche Assoziationen. Der in der Hand gehaltene Kelch lässt uns an ein gemeinsames Ritual denken. Ihre Gewänder sind vereint und die einzelnen Personen nicht so eindeutig nachzuvollziehen. Eine schwer zu fassende Einheit, wobei alles zum Greifen nahe scheint. Diese Figuren rücken im Bild ein wenig nach hinten. Ihre Körper sind deutlich kleiner als die der Figuren auf rechten Seite. Die beiden Gruppen bewegen sich aufeinander zu, auch wenn das Trennende im Bild deutlich auszumachen ist. Man sieht es in der unterschiedlichen Farbigkeit, den Körperdarstellungen und der räumlichen Positionierung. Nicht zuletzt zerschneidet auch das Pendel an der leicht schrägen Schnur das Bild in zwei Teile. Durch die suggerierte Bewegung des „Zahnrades“ werden die Bildseiten aber immer wieder miteinander verbunden. Der Blick pendelt wortwörtlich hin und her. Zudem gibt es einen verbindenden Horizont und einen Farbverlauf im oberen Drittes des Bildes. Auch hier findet sich ein Pendant zum Zahnrad auf der linken Seite in Form eines Sterns, eines Flugobjektes, einer Krone – man weiß es nicht genau.


Damit ist im Wesentlichen das beschrieben, was wir auf der Oberfläche des Bildes sehen können. Wie aber kommt der Titel des Bildes zustande? „Freigelegt“ – was wird hier freigelegt? Das Bild zeigt wohl etwas von dem, was man im Normalen nicht sehen kann. Um das alte Paul Klee Zitat zu bemühen: „Kunst gibt nicht das Sichtbare wieder, sondern macht sichtbar.“ Es ist ein geschöpftes Bild, parallel zur Wirklichkeit. Es greift Impulse der Wirklichkeit auf und verändert ihre Erscheinungen auf der Bildebene soweit, dass wir zu einer offenen und mehrdeutigen Ansicht gelangen. Hier geht es nicht um das Abbild von
Personen, sondern um das Wesen und die Bezüge hinter der sichtbaren „Haut“. Der bekannte Raum, die vertraute Erscheinung wird weggenommen und das Wahrhaftige wird freigelegt und tritt uns gegenüber. Es ist befremdlich und wir müssen es für uns neu ordnen und deuten. Extreme Lebenssituationen reißen uns aus diesen vertrauten Bildern heraus. Dieses Bild ist 2022 in einer Zeit entstanden, in welcher der Begriff „Zeitenwende“ unsere Wirklichkeit prägte. Es gibt ungewohnte Vorgänge hinter der Oberfläche und auf diese Spur begeben sich das Bild, die Zeichnungen und die Grafik.

 

 

Ausstellungen: 
Offenes Atelier 2023 / 2024

Leinen los

 

  Leinen los, 190 x 240 cm, Tempera auf Leinwand, Januar 2022

 

 



 

 

Leinen los

Leinen los
Das Gemälde markiert den Auftakt der Werkreihe ReiseReise. Hiermit beginnt eine wohl langjährige Arbeit aus Holzschnitten und eher großformatigen Bildern. Umfangreiche Serien mit Zeichnungen begleiten die Arbeit. Der Impuls zu diesem Bild kommt aus einem Gedicht des Jahres 2021 und eröffnet unter dem Titel „Leinen los“ ein kleines Projekt. Nach einer ersten schnellen Farbskizze wird das Bild mit der Übertragung auf die Leinwand begonnen.


Nicht die Zeit

um den Kopf

und den Mut

sinken zu lassen


Zeit die Krone zu richten

die Segel zu setzen

zu fahren – gegen den Wind


Neuland erkunden

eine Reise beginnen

Mut und Poesie packen

Kaffee reichlich

Brot und Speck

Tabak und Kohle

Farbe, Papier


Leinen los

Adieu mein Schatz

und auf ins Neue Jahr

 

 Leinen los, 21 x 29,7 cm, Farbstift und Bleistift auf Papier, Dezember 2021

 

 


 

Voller Elan starte ich das Jahr 2022 mit dem Vorsatz, neue großformatige Bilder zu malen. Die fünf Jahre zuvor waren geprägt durch den Holzschnitt. Mit diesem Medium wurde auch der Wandel von den abstrakten Schwarz-Weiß- Bildern (2017) über den Passionszyklus (2018 - 2019) und den Köpfen (2020) hin zu neuen narrativen Ansätzen vollzogen. Erste Arbeiten entstehen 2021 und nun soll diese Bildform auch als Malerei weitergeführt werden. Aus den Bestandteilen der vergangenen Jahre und den durchgearbeiteten Werkzyklen zu Farbe und Volumen werden Elemente genommen und wieder zu neuen Bildgeschichten zusammengefügt. Die Krone wird gerichtet, das Zahnrad in Gang gesetzt und ein Spiel kann beginnen. So entsteht dieses erste Bild. Es erinnert an ein Kindertheater für Erwachsene. Ein ernstes Bild mit komische Zügen, bei dem die Maske zu groß ist, der König sich zu wichtig nimmt, das Boot eher zu einer Badewanne passt und der Vogel keiner ornithologischen Zuordnung standhält. So ernsthaft und sorgfältig gearbeitet und doch ein wenig naiv im Ausdruck. Dass hier etwas nicht ganz passt, gefällt mir besonders an diesem Bild. Eine zusätzliche tragisch-komische Wendung bekommt dieses Werk im Frühjahr 2022, als Russland die Ukraine angreift. Zu Beginn des Jahres hatte man das noch nicht ernsthaft geglaubt. Nun wird dieser seltsame „König“ Wirklichkeit.


Nach Beendigung des Bildes habe ich das gleiche Motiv als Holzschnitt, Linolschnitt und als Radierung durchgearbeitet. Dabei interessiert mich die unterschiedliche Wirkung der Medien, aber auch der Farben und insbesondere der Bildgrößen. Auf der großen Leinwand wirkt das Motiv besonders grotesk und als  Radierung fast schon seriös. So wird aus ein paar Zeilen eine kleine projektartige Arbeit, die mich für die kommenden Bilderbeflügelt und neugierig werden lässt.
 

 

  Leinen los, 20 x 25 cm , Aquatinta Radierung, Februar 2022

 

 

Leinen los, 34 x 25,5 cm, Linolschnitt, März 2022 

 

 

 

  Leinen los, 34 x 25,5 cm, Holzschnitt, März 2022
 
 
 
 
Ausstellungen: 
Offenes Atelier 2023 / 2024